Gernot Menke
06.06.2010, 23:06
5. April 1989, 15.30 Uhr in Gelsenkirchen. Das GMS „Nicole“ legt ab für eine Reise nach Kehl. Dort soll das Schiff schon zwei Tage später löschen. Nicht zu schaffen für das in der Betriebsform A1 fahrende Schiff, das zwar die bei einer Länge von bis zu 80 Metern vorgeschriebenen 2 Mann an Bord hat, aber die erforderlichen Ruhepausen nicht einhalten kann. Der Schiffer läßt seinen Matrosen nur kurz ans Ruder, wenn er mal auf die Toilette muß. Und der Matrose muß alle zweieinhalb Stunden die Maschine abschmieren – die vorgeschriebenen acht Stunden Ruhe am Stück sind bei einer durchgehenden Fahrt also schon rein theoretisch nicht möglich.
Da das Schiff keinen Fahrtenschreiber hat, hätte es eigentlich von 22 – 6 Uhr Nachtruhe halten müssen. Aber der Termin drückt. Es wird schon irgendwie gehen. Die erste Nacht geht gut rum. Auch die zweite ist fast geschafft, das Gebirge ist schon bewältigt. Doch nach 38 Stunden ununterbrochener Fahrt, in den gefährlichen frühen Morgenstunden, fordert der Körper seinen Tribut. Der Schiffer nickt ein, nachdem das Schiff – so gibt später der Schiffmann des hinterherfahrenden „Bilancia“ zu Protokoll, schon vorher „einen etwas komischen Kurs“ gefahren war. Der Kopf schert plötzlich nach Backbord aus und trifft den brav auf seinem Kurs zu tal fahrenden „Adi“, der fast schon vorbei ist, in spitzem Winkel in der Höhe des letzten Raumes.
Es ist noch dunkel morgens um 05.30 Uhr im April. Für den Schiffsführer des „Bilancia“ sieht es so aus, daß sich das Radarecho seines Vordermannes plötzlich nach Backbord ans rechte Ufer bewegt und mit dem Radarecho des entgegenkommenden Talfahrers eins wird. Der Backbord-Buganker des „Nicole“ reißt den „Adi“ auf 8,20 m Länge 65 cm breit auf. Der mit Eisen tief abgeladene Adi sinkt so schnell, wie der „Nicole“ herübergebogen kam. Geistesgegenwärtig stellt der Schiffer auf dem „Adi“ noch die Maschine ab, die dadurch keinen Wasserschaden erleidet. Der Arsch sackt zuerst weg – beide Ruder sind später kaputt. Der „Adi“ rutscht noch 100, vielleicht 150 m weiter in dieser schrägen Stellung zu tal und liegt dann bei km 511,7 nahe der Kleinen Gies im Rheingau auf Grund – immer noch exakt auf Kurs brav 26 m seitlich des Tonnenstrichs auf dieser Strecke mit Rechtsfahrgebot. Die beiden Besatzungsmitglieder des „Adi“ aus Gieselwerder an der Oberweser, der Schiffer und sein Sohn, können sich retten. Einer kann auf den „Nicole“ hinüberspringen, der andere schwimmt durch den kalten Rhein ans Ufer.
Nach der Bergung wird das Schiff später in Bingen so weit hergestellt, daß es zur Werft im Abstiegshafen in Minden geschleppt werden kann. Die Maschine, die noch abgestellt und damit gerettet wurde, läuft nach einem Ölwechsel bereits in Bingen wieder.
Der Versicherer des „Adi“ fordert später 419.045,20 DM plus Zinsen als Schadenersatz vom Schiffer und Eigner des „Nicole“. Das Rheinschiffahrtsgericht bestätigt diesen Anspruch prinzipiell, beschränkt ihn aber dinglich auf das GMS „Nicole“. Der Grund ist, das Schiffer, die zugleich auch Eigner des Schiffs sind, nicht stärker zur Verantwortung gezogen werden sollen als Reeder, die für nautische Fehler beauftragter Fremdschiffer ebenfalls nur für Schiff und Fracht haften.
Was dem Schiffer des „Nicole“ dann aber das Genick bricht, ist der Begriff der „böslichen Handlungsweise“, der sich nicht nur auf Vorsatz bezieht, sondern auch auf bewußte grobe Fahrlässigkeit. Der erfahrene Schiffer mußte wissen, daß er nicht in einem Rutsch von Gelsenkirchen nach Kehl fahren konnte, ohne zu riskieren, einzuschlafen oder schwere Fehler zu machen. Indem er dieses hohe Risiko bewußt ging, handelte er „böslich“ und mußte dafür unbeschränkt haften.
Einem entsprechenden Einspruch gegen das erste Urteil von Seiten der Versicherung des "Adi", die den unbegrenzten Schadenersatz erreichen wollte, wurde stattgegeben. Auch der Schiffer des „Nicole“ legte Einspruch ein und beging in seiner Not Meineid, indem er fälschlich angab, ein dritter Mann sei bis St. Goar an Bord und er selbst nicht übermüdet gewesen. Auch sei nicht klar, wer wem in die Seite gefahren sei.
Die Umstände sprachen aber für sich, der angebliche dritte Mann zog seine falsche Aussage, zu der er überredet worden war und die ihm dann einigen Ärger eingebracht haben dürfte, wieder zurück und die Berufung des Schiffers und Eigners des „Nicole“ wurde abgewiesen.
Für den Schiffmann des „Nicole“ dürfte das der wirtschaftliche Ruin gewesen sein. Jedenfalls ist nicht anzunehmen, daß ihm seine Versicherung sein „bösliches“ Handeln ersetzt hat. Für den Schiffer des „Adi“ galt damit umgekehrt die Formel: wo nichts ist, ist nichts zu holen. Er bekam zwar den Großteil seiner Unkosten ersetzt, aber nicht in der Höhe, die ihm vom Gericht zugesprochen worden war. Er hat heute noch offene Titel in nicht unbeträchtlicher Höhe, von denen man nur vermuten kann, daß sie am Existenzminimum des ehemaligen „Nicole“-Schiffers scheitern.
Zu den Bildern: Bild 1: Der versenkte Adi, Bild 2-4: das Schiff ist gehoben und wird gedreht, Bild 5: stabilisierender H-Träger im Gangbord an der Rammstelle. - Kennt jemand den assistierenden Schlepper? BS steht im Schornstein.
:wink: Gernot
PS: Ich habe den "Adi" später wieder fahren sehen. Es soll ihn noch geben, aber unter einem anderen Namen. Das Schiff wurde innerhalb Deutschlands verkauft, ich glaube, an den MLK. Vielleicht weiß einer mehr!
Da das Schiff keinen Fahrtenschreiber hat, hätte es eigentlich von 22 – 6 Uhr Nachtruhe halten müssen. Aber der Termin drückt. Es wird schon irgendwie gehen. Die erste Nacht geht gut rum. Auch die zweite ist fast geschafft, das Gebirge ist schon bewältigt. Doch nach 38 Stunden ununterbrochener Fahrt, in den gefährlichen frühen Morgenstunden, fordert der Körper seinen Tribut. Der Schiffer nickt ein, nachdem das Schiff – so gibt später der Schiffmann des hinterherfahrenden „Bilancia“ zu Protokoll, schon vorher „einen etwas komischen Kurs“ gefahren war. Der Kopf schert plötzlich nach Backbord aus und trifft den brav auf seinem Kurs zu tal fahrenden „Adi“, der fast schon vorbei ist, in spitzem Winkel in der Höhe des letzten Raumes.
Es ist noch dunkel morgens um 05.30 Uhr im April. Für den Schiffsführer des „Bilancia“ sieht es so aus, daß sich das Radarecho seines Vordermannes plötzlich nach Backbord ans rechte Ufer bewegt und mit dem Radarecho des entgegenkommenden Talfahrers eins wird. Der Backbord-Buganker des „Nicole“ reißt den „Adi“ auf 8,20 m Länge 65 cm breit auf. Der mit Eisen tief abgeladene Adi sinkt so schnell, wie der „Nicole“ herübergebogen kam. Geistesgegenwärtig stellt der Schiffer auf dem „Adi“ noch die Maschine ab, die dadurch keinen Wasserschaden erleidet. Der Arsch sackt zuerst weg – beide Ruder sind später kaputt. Der „Adi“ rutscht noch 100, vielleicht 150 m weiter in dieser schrägen Stellung zu tal und liegt dann bei km 511,7 nahe der Kleinen Gies im Rheingau auf Grund – immer noch exakt auf Kurs brav 26 m seitlich des Tonnenstrichs auf dieser Strecke mit Rechtsfahrgebot. Die beiden Besatzungsmitglieder des „Adi“ aus Gieselwerder an der Oberweser, der Schiffer und sein Sohn, können sich retten. Einer kann auf den „Nicole“ hinüberspringen, der andere schwimmt durch den kalten Rhein ans Ufer.
Nach der Bergung wird das Schiff später in Bingen so weit hergestellt, daß es zur Werft im Abstiegshafen in Minden geschleppt werden kann. Die Maschine, die noch abgestellt und damit gerettet wurde, läuft nach einem Ölwechsel bereits in Bingen wieder.
Der Versicherer des „Adi“ fordert später 419.045,20 DM plus Zinsen als Schadenersatz vom Schiffer und Eigner des „Nicole“. Das Rheinschiffahrtsgericht bestätigt diesen Anspruch prinzipiell, beschränkt ihn aber dinglich auf das GMS „Nicole“. Der Grund ist, das Schiffer, die zugleich auch Eigner des Schiffs sind, nicht stärker zur Verantwortung gezogen werden sollen als Reeder, die für nautische Fehler beauftragter Fremdschiffer ebenfalls nur für Schiff und Fracht haften.
Was dem Schiffer des „Nicole“ dann aber das Genick bricht, ist der Begriff der „böslichen Handlungsweise“, der sich nicht nur auf Vorsatz bezieht, sondern auch auf bewußte grobe Fahrlässigkeit. Der erfahrene Schiffer mußte wissen, daß er nicht in einem Rutsch von Gelsenkirchen nach Kehl fahren konnte, ohne zu riskieren, einzuschlafen oder schwere Fehler zu machen. Indem er dieses hohe Risiko bewußt ging, handelte er „böslich“ und mußte dafür unbeschränkt haften.
Einem entsprechenden Einspruch gegen das erste Urteil von Seiten der Versicherung des "Adi", die den unbegrenzten Schadenersatz erreichen wollte, wurde stattgegeben. Auch der Schiffer des „Nicole“ legte Einspruch ein und beging in seiner Not Meineid, indem er fälschlich angab, ein dritter Mann sei bis St. Goar an Bord und er selbst nicht übermüdet gewesen. Auch sei nicht klar, wer wem in die Seite gefahren sei.
Die Umstände sprachen aber für sich, der angebliche dritte Mann zog seine falsche Aussage, zu der er überredet worden war und die ihm dann einigen Ärger eingebracht haben dürfte, wieder zurück und die Berufung des Schiffers und Eigners des „Nicole“ wurde abgewiesen.
Für den Schiffmann des „Nicole“ dürfte das der wirtschaftliche Ruin gewesen sein. Jedenfalls ist nicht anzunehmen, daß ihm seine Versicherung sein „bösliches“ Handeln ersetzt hat. Für den Schiffer des „Adi“ galt damit umgekehrt die Formel: wo nichts ist, ist nichts zu holen. Er bekam zwar den Großteil seiner Unkosten ersetzt, aber nicht in der Höhe, die ihm vom Gericht zugesprochen worden war. Er hat heute noch offene Titel in nicht unbeträchtlicher Höhe, von denen man nur vermuten kann, daß sie am Existenzminimum des ehemaligen „Nicole“-Schiffers scheitern.
Zu den Bildern: Bild 1: Der versenkte Adi, Bild 2-4: das Schiff ist gehoben und wird gedreht, Bild 5: stabilisierender H-Träger im Gangbord an der Rammstelle. - Kennt jemand den assistierenden Schlepper? BS steht im Schornstein.
:wink: Gernot
PS: Ich habe den "Adi" später wieder fahren sehen. Es soll ihn noch geben, aber unter einem anderen Namen. Das Schiff wurde innerhalb Deutschlands verkauft, ich glaube, an den MLK. Vielleicht weiß einer mehr!