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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Fortschritt - GSK / Baujahr 1888



Hannes_VK
10.02.2012, 12:37
Guten Morgen miteinander!

Mein Name ist Johannes und ich bin Student der Volkskunde an der Universität Würzburg. Und bis jetzt hatte ich mit Binnenschifffahrt nicht so viel zu tun.

Allerdings wurde dieses Semester ein Projekt gestartet, zu dem die Uni ein begleitendes Seminar veranstaltet, um die Studenten in Aus-
stellungspraxis und Objektrecherche üben zu lassen. Dafür wurde jedem von uns ein bestimmtes Thema an die Hand gegeben, in meinem Fall: das Eisenschiff "Fortschritt".

Zu diesem Schiff steht ein Modell im Schlossmuseum Aschaffenburg - aber sehr viel weiter geht mein Material zu diesem Thema auch nicht. Darum hatte ich gehofft, vielleicht durchs Internet an ein paar Informationen zu gelangen, und hab mich deshalb in dieserm Forum an-
gemeldet.

Also, es würde mich sehr sehr freuen, wenn irgendjemand schonmal etwas von diesem Eisenschiff "Fortschritt" (das meiner Vermutung nach auf dem Main gefahren ist) gehört hat, oder jemanden kennt, der jemanden kennt, der etwas davon weiß, bitte schreibt es hier in
diesen Beitrag.

Mein ewiger Dank wäre euch sicher!

Johannes

Gernot Menke
10.02.2012, 16:32
Hallo Johannes,

die Mainkanalisierung erreichte 1886 vom Rhein aus Frankfurt; Aschaffenburg wurde erst 1920 erreicht. Aber es gab seit 1886 die Kettenschlepper ("Maakuh". Da Du in Würzburg lebst, wird Dich vielleicht dies (http://www.binnenschifferforum.de/showthread.php?3516-Die-falsche-und-die-echte-Meekuh-in-W%FCrzburg) interessieren), in deren Anhang Schleppschiffe bis zu einem gewissen Tiefgang trotz des noch nicht gegebenen Ausbaus Aschaffenburg erreichen konnten.

Wenn es sich in dem Museum in Aschaffenburg um ein Beispiel für ein "beliebiges" Schiff handeln sollte, wie es nach 1886 vom Rhein aus nach Aschaffenburg kam, dann kommen also jede Menge Schiffe in Betracht. Denn der Name FORTSCHRITT war in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sicherlich alles andere als selten.

Wenn es sich hingegen um ein typisches Mainschiff handeln sollte, wie sie immer schon den kompletten Fluß befuhren, dann stelle ich fest, daß es in dem Buch von Helmut Betz über die Mainschiffahrt (Band 12 der Reihe "Historisches vom Strom", der im Hinblick auf die alte Schiffahrt sicherlich nicht erschöpfend ist) jedenfalls nicht drin ist. Da steht, daß das erste eiserne Schiff am bayerischen Main die "PATRONIN VON FRANKEN" (45 x 6,85 m, 306 Tonnen, gebaut 1893 in Lobith, Eigner Seus) aus Prozzele (diesen bedeutenden Schifferort am Main, lieber Johannes, gibt es auf keiner Karte - aber für einen Ethnologiestudenten sicher ein Klacks, den richtigen Namen herauszufinden :tongue:) gewesen sei - natürlich ein Schleppschiff noch mit Bugspriet und Helmstockruder, wie es sich gehörte. Damit sind zugleich die Abmessungen genannt, die das gesuchte Schiff in etwa haben müßte, wenn es denn ein Mainschiff war (heute gibt es diese Spezialisierung, so wie auch auf den anderen Flüssen, nicht mehr, weil die Flüsse überall ausgebaut worden sind - einstmals aber hatte jeder Fluß seinen für ihn passenden Schiffstyp).

Kurz: ein paar Daten mehr könnten es schon sein!

PS: sehr viele der alten stählernen Mainschiffe kamen aus den Niederlanden.

:wink: Gernot

Hannes_VK
11.02.2012, 14:04
Hallo Gernot,

danke für deine schnelle Antwort!

Natürlich ist mir die "Meekuh" (oder "Määkuh", wie sie in Aschaffenburg genannt wird) ein Begriff, aber meines Wissens handelt es sich bei dem gesuchten Schiff leider nicht um einen Kettenschleppern, zu denen ich tonnenweise Informationen gefunden hätte.
Aber trotzdem sind die Hinweise bestimmt nicht für nichts, und ich kann sie irgendwie gewinnbringend verwenden, also nochmal danke!

PS: Wenn ich mich nicht täusche, handelt es sich bei Prozzele um Dorfprozelten in der Nähe von Wertheim, oder? ;)

magisternavis
11.02.2012, 15:29
Hallo Hannes,

wenn möglich, stell doch mal bitte ein Foto vom "Fortschritt" hier ein. Für mich klingt der Name so in Richtung Sozialismus. Unter diesem Begriff gibt es tatsächlich einen Dampfer namens "Fortschritt". Der ist aber im Osten Deutschlands gefahrten. Fotos findest Du hier:

http://www.ddr-binnenschifffahrt.de/fotogalerie-gross/Hilfsschiffe/fortschritt.JPG
(der Inhalt der verlinkten Seite unterliegt der Haftung des Anbieters)

Vielleicht kommst Du darüber ja weiter.

Gruss
Werner

Hannes_VK
14.02.2012, 15:08
Nochmal hallo an alle,

es war mir zwar leider nicht vergönnt, ein Bild irgendwo aufzutreiben, dafür aber endlich ein paar Fakten über das besagte Schiff.

Das Eisenschiff "Fortschritt" wird oft als das erste eiserne Mainschiff angesehen; der Lastschleppkahn wurde 1888 in der Werft Ruthof in Mainz-Kastel gebaut, gehörte dem Eigner Josef Ebert von Klingenberg und war 44m lang, 6,88 m breit und hatte einen Tiefgang von 1,50. Geeicht wurde die "Fortschritt" auf 5726 Zentner (286 Tonnen) Tragfähigkeit und besaß Seitschwerter, zwei Lademasten und Sprieten. Diese Ausrüstung wurde aber über die Jahre von 1904 bis 1916 wieder entfernt, sowie das Helmstockruder 1908 durch eine modernere Ruderanalge ersetzt,.

Dazu bleiben bei mir aber trotzdem ein paar Fragen offen, was jetzt die Ausrüstung betrifft. Könntet ihr mir sagen, was Seitschwerter, Lademasten, Sprieten, und ein Helmstockruder sind, was für eine Funktion sie hatten?

Meinen Dank nochmal,

Gruss,

Hannes

Gernot Menke
14.02.2012, 15:45
Also ein typisches Mainschiff mit fast exakt denselben Daten wie die in # 1 genannte PATRONIN VON FRANKEN - dachte ich es mir doch. Ich bilde mir sogar ein, von dem FORTSCHRITT aus Klingenberg mal in einem Buch ein Foto gesehen zu haben - aber wo!

@Johannes, (ja Du hast Recht, Prozzele ist Dorfprozelten) ganz kurz im Telegrammstil, und was ich hier schreibe, gilt nicht speziell für den Main, sondern allgemein:

Die frühen Eisenschiffe waren im Grunde aus Eisen nachgebaute Holzschiffe - alte Bautraditionen aus dem Holzschiffbau wurden nicht über Nacht abgelegt. In gleicher Weise wirkten die Traditionen auch bei der Ausrüstung weiter: so hatten bekanntlich auch die ersten Überseedampfer noch eine Segel-Takelage.

Die Binnenschiffe ließen sich einstmals zu tal treiben (und konnten trotzdem steuern, weil sie wegen ihres Gewichts schneller waren als das Wasser!) - zu berg wurde gesegelt oder getreidelt - bei günstigem Wind auch hier und da unter Zuhilfenahme von Segeln. Als mit der Dampfmaschine die Schleppschiffahrt aufkam, schmiß man das alles nicht einfach über Bord, sondern die Schiffe behielten noch ihre Masten und Segelausrüstung. Die Masten waren auch ein Teil des Ladegeschirrs -. freilich mußten sie wegen der Brücken umlegbar sein.

Bald erkannte man, daß man eh nicht mehr segelte und ließ die Segelausrüstung weg, ebenso mit der Vervollkommnung der Lade- und Löscheinrichtungen in den Häfen (elektrische Kräne usw.) dann auch das Ladegeschirr. Ebenso entwickelte sich die Technik der Schiffe selbst weiter, wie z.B. beim Ruder.

Die Lademasten des FORTSCHRITT sind die "übriggebliebenen" Segelmasten und die Sprieten die Ladebäume dazu. Die Seitenschwerter (google das mal) sind als Teil der Segelausrüstung große seitliche Tafeln, die man zum Segeln herunterlassen mußte, damit sich das Schiff gegen den Wind im Wasser abstützen konnte und die Windkraft in Vortrieb umgewandelt wurde, anstatt das Schiff zur Seite wegzudrücken. Beim Treideln oder Schleppen im flachen Wasser mußten die Dinger natürlich hochgezogen werden, aber da brauchte man sie ja auch nicht. Heute haben die Segelyachten anstelle der Seitenschwerter einen Kiel, der ebenfalls oft einziehbar ist.

Das Helmstockruder: der Helmstock war sozusagen die "Ruderpinne", nur in etwas größer. Dieser waagerechte Baum war hinten am Ruderblatt fest, das heißt, durch seitliches Bewegen des Helmstocks wurde gesteuert. Der Druck des Wassers ist natürlich nicht gerade klein und deswegen befand sich eine "Hühnerleiter" an Deck, damit der Schiffer bei Schnee nicht abrutschte ...

Die Ablösung des Helmstockruders erfolgte durch das Steuerrad, das eine Übersetzung ermöglichte - zunächst im Form eines liegenden Haspels. Später ging man zum bequemeren senkrechten Steuerrad über. Übertragen wurde die Kraft jetzt über Ketten auf ein waagerechtes Drehsegment am Ruderschaft, den "Quadranten". Diese Ruder nennt man heute "Handruder" - die Zeiten sind vorbei und es regieren Hydraulik und Elektronik. Ein paar alte Schiffe mit Handruder fahren aber doch noch herum.

Guck Dir mal Fotos von alten Schiffen an und Du wirst diese Elemente in dieser oder jeder Form überall wiederfinden.

:wink: Gernot

Ach ja: wende Dich doch mal an das Mainschiffahrtsmuseum in Wörth, Herrn Rudi Bauer. Der kann Dir vermutlich weiterhelfen.

Hannes_VK
14.02.2012, 20:18
Das Mainschiffahrtsmuseum Wörth hab ich bereits kontaktiert, bin ich durch Internetrecherche drauf gekommen, zum Glück!

Die Erläuterungen zu den Ausrüstungsstücken sind sehr hilfreich, vielen Dank! So lassen sich einige Details (v.a. an dem Modell) um einiges besser erklären und vor allem auch in Kontext stellen! Mal sehen, was im weiteren Verlauf der Projektarbeit so herumkommt, sollte etwas Interessantes dabei sein, werde ichs bestimmt nicht versäumen, es hier mitzuteilen!

claudius2
15.02.2012, 01:24
Hallo Hannes
Vieleicht ist Dir damit gedient.

Hannes_VK
15.02.2012, 01:52
Das ist der Wahnsinn, das Foto sind sehr hilfreich! Darf ich dich fragen, aus welchen Buch / Artikel dieses Foto ist?

Gernot Menke
15.02.2012, 17:21
Das würde mich auch interessieren - ich vermute, daß es aus einer der Veröffentlichungen des Museums stammt, von denen meines Wissens aber nicht mehr alle zu haben sind.

Sehr interessant ist auch der Text zu den Fotos, wobei ich nicht weiß, woran man festmacht, daß das erste Holzschiff in Dorfprozelten 1928 außer Dienst gestellt wurde. Ausgediente Holzschiffe wurden natürlich immer schon verheizt oder als Bauholz benutzt, wobei ich gestehen muß, daß ich nicht weiß, wie alt Holzschiffe wurden (man sollte das nicht unterschätzen! Bis in die 1970er Jahre fuhren ja noch hier und da Holzpenischen herum, die zu diesem Zeitpunkt - natürlich oder sogar, ganz wie man es nimmt - motorisiert waren, was manchen von ihnen langfristig buchstäblich das Genick gebrochen hat). Damit kann, da es in Dorfprozelten ja schon Eisenschiffe gab, doch nur gemeint sein, daß erstmals ein Schiffer des Ortes ein eigentlich noch intaktes Holzschiff nicht mehr weiterbenutzte, sondern durch ein moderneres Eisenschiff ersetzte.

Die PATRONIN VON FRANKEN hat übrigens auf einem Foto ein stehendes Steuerrad, das über Ketten am verkürzten Ende des alten Helmstocks ansetzte. Ich bin gespannt, ob man bei der Modernisierung des Ruders des FORTSCHRITT 1908 bereits eine ähnliche Lösung wählte, oder ob das waagerechte Haspel zum Einsatz kam. Vielleicht gelingt es ja, die Geschichte dieses interessanten Schiffes einmal komplett zu rekonstruieren. Vielleicht ist das Schiff noch zu einem "Selbstfahrer" geworden.

:wink: Gernot

Stadt_Aschaffenburg
15.02.2012, 17:29
Hallo Gernot,

der Auto schreibt, daß das letzte Holzschiff vom Main in 1928 außer Dienst gestellt wurde ;-)

LG
Micha

Gernot Menke
15.02.2012, 17:37
Danke, Micha, für die prompte Aufklärung. Der Text ist bei mir recht schwer zu lesen. Das klingt plausibler!

:wink: Gernot

Stadt_Aschaffenburg
15.02.2012, 18:40
Hallo Gernot,

ja das ist die Komprimierung. Auf meinem Netbook kann ichs auch nicht lesen, aber auf dem PC gehts.

LG
Micha

Cassiopeiag
27.06.2015, 23:35
Hallo!

Ich weiß nicht ob es noch von Interesse für Dich ist, aber ich bin die Enkelin von Heinrich Ebert, dem der "Fortschritt" seinerzeit gehört hat. Wenn es wichtig ist, kann ich gerne mal die Aufzeichnungen, Modelle und Fotos von uns durchgehen, ob etwas dabei ist.

Gruß, G. Ebert