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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Gestiefelter Kater - Gierfähre Oedelsheim



Gernot Menke
10.09.2013, 10:10
Warum nicht auch mal etwas in die Tiefe gehen - kleine Fähre, großer Bericht in zwei Teilen! :lool:

Die Fähre in Oedelsheim – heute die zweitoberste Fähre an der Weser - ist alt und taucht erstmals im 13. Jahrhundert in einer Urkunde auf. Die floßähnliche und gestakte Fähre setzte nur Tiere und Menschen über – Wagen benutzten die Furt, sofern der Wasserstand das gestattete. Um 1900 dann ein Fortschritt: die Fähre gierte nun an einem Tiefseil – das erste Foto zeigt die Tiefseilfähre kurz vor dem Erreichen des linken Ufers. Man beachte das lange Ruder, denn die Fähre hing nur an einem Seil und der Fährmann mußte jederzeit den richtigen Winkel zum Gieren treffen.

Erst ab 1934 kam das Hochseil, an dem nun eine Wagenfähre hing. Ob der Wunsch der Landwirte, mit ihren Wagen bequemer und unabhängiger vom Wasserstand übersetzen zu können, oder der Wunsch der zunehmenden Schiffahrt, das Tiefseil und die Furt loszuwerden, schwerer wogen, weiß ich nicht, aber die beiden Wünsche haben sich jedenfalls nicht widersprochen.

Die jetzige Fähre (Fotos 2 und 3) ist der Nachfolger der Fähre von 1934, die morsch war und keine Zulassung mehr erhielt. Völlig morsch war übrigens auch das kleine Fährhaus, das ebenfalls erneuert wurde und nun einen angeblich vom Landeskonservator gewünschten Dachreiter erhielt (Foto 4) – das alte Fährhaus ähnlicher Größe hatte jedenfalls keinen.

Im Grunde ist es ja erstaunlich, daß die Fähre nicht erloschen ist. Die Landwirtschaft benutzt die Fähre kaum noch – die heutigen Ackerschlepper sind zu groß. Einmal kam ein Reisebus zur Fähre, betrachtete mit großen Augen das kleine Schiff und wendete. Auch Autos sind eher die Ausnahme, am häufigsten sind noch die Radfahrer, denn die Fähre ist nur sehr eingeschränkt in Betrieb – möglicherweise nur sonntags, ich bin mir nicht ganz sicher. So vergleichsweise üppig, wie auf dem Hinweisschild vorne an der Hauptstraße noch zu lesen, sind die Verkehrszeiten jedenfalls nicht mehr.

Der wichtigste Impuls für den Erhalt der Fähre kam aus der Bevölkerung von Oedelsheim, der die Fähre ans Herz gewachsen war. Viele Bürger spendeten Geld, ein Schlosserbetrieb übernahm – übrigens auch für andere Fähren im Umkreis der Oberweser – die technische Betreuung und verhandelte auch in Derben an der Elbe mit der Bauwerft Barthel, die die jetzige Fähre 1997 für 40.000 DM baute (Foto 5).

Bei so viel Bürgerwillen und Unterstützung konnte die Gemeinde praktisch gar nicht anders, als die Fähre zu erhalten und so wurde sie in bescheidener Größe gebaut (Länge 16 m bzw. 23 m über die Rampen und Breite 4 m; Zuladung 5 Tonnen). Sie nutzte die Fähre zur touristischen Vermarktung und da die Märchenstraße an der Weser entlang führt und der gestiefelte Kater aus unerfindlichen Gründen Oedelsheim zugeordnet wurde (Gieselwerder erhielt Schneewittchen), war der Name der Fähre beschlossene Sache (Bild 6).

Nun stehen die Gebrüder Grimm nicht nur für deutsche Märchen, sondern ebenso auch für die Erforschung der deutschen Sprache – deswegen ist der Schreibfehler beim „Gesammtgewicht“ nett (Foto 7). Ganz unten steht, daß bei einem Pegel von 107,85 m die Fähre einzustellen ist. Gar nicht so einfach, denn Oedelsheim hat gar keinen Pegel! So leicht geben sich die Oedelsheimer aber nicht geschlagen und so ist der HSW der Fähre wie eine Ablademarke einfach am Ufer angeschlagen (Bilder 8 und 9).

Apropos Hochwasser: auf dem zehnten Foto sieht man im Hintergrund ein weißes Auto vor einem ebenfalls weißen Haus auf der linken Seite. Die Hochwassermarken (Foto 11) sind an diesem Haus angebracht und noch hinter diesem Haus steht auch der weit vom Wasser entfernte Poller (Foto 12), für den ich keine andere Erklärung habe, als daß er der Befestigung der Fähre bei Hochwasser dient.

:wink: Gernot

Gernot Menke
10.09.2013, 10:18
Der Hochwasserpoller erinnert daran, daß auch an einer solch kleinen Fähre mehr dranhängt, als man so meint. Der Job will sorgsam gemacht sein. Bei der Vorgängerfähre kam einmal ein Ackerschlepper mit einem Anhänger voller Kies, um mit der Fähre nach Oedelsheim überzusetzen. Beim Auffahren löste sich der Knoten und die Fähre schoß davon. Der Traktor landete mit dem Kiesanhänger in der Weser, die beiden jungen Kerle auf dem Traktor konnten sich schwimmend retten. Toll war, wie das Gespann wieder herausgeholt wurde. Ein Taucher machte den Traktor fest und dann wurde das Gespann von zwei Ackerschleppern einfach von der anderen Seite quer durch die Weser nachhause gezogen! Ein Großteil des Kieses war allerdings weg und ein Ölwechsel fällig. Das dürfte das letzte Mal gewesen sein, daß die alte Furt noch einmal "befahren" wurde, nämlich 1975.

Die – ich meine vier – Fährleute, die sich ablösen, machen ihren Dienst deswegen nicht nur einfach so. Jeder mußte ein Schifferdienstbuch beantragen, was mit Gebühren verbunden ist, und neunzehn Tage mit einem Fährmann Dienst tun und sodann eine Prüfung ablegen. Die durfte natürlich nicht beim zukünftigen Fährmann im Wohnzimmer stattfinden, sondern an einem neutralen Ort, wo die aus Minden für 270 DM angereiste Prüfungskommission dann die Prüfung abnahm. Einer der Prüfer wollte wissen, was es mit dem gestiefelten Kater auf sich habe, doch diese Frage konnte der Fährmann nicht beantworten! Ein Alt-Oedelsheimer scheint der gestiefelte Kater also nicht zu sein.

Die Fähre bietet aber nicht nur Erzählstoff, sie giert auch. In der Praxis wird nur die Winde benutzt, die man im Beitrag zuvor auf Bild 10 hinten rechts erkennen kann – leider sind die schönen Speichen nur aufgemalt. Der Fährmann stößt die Fähre mit einigem Körpereinsatz von der Rampe ab – sodann wird (bei der Fahrt vom linken zum rechten Ufer) die vordere Winde angezogen. Ich habe es selbst ausprobiert: man muß schon etwas kurbeln , es ist nicht schwer, aber es sind zwanzig, dreißig Umdrehungen, bis die Kette genug eingeholt ist, um den Gierwinkel herzustellen. Auch stört das Geländer ein bißchen beim Kurbeln (Bild 1). Ein in die Kette geflochtener Draht zeigt an, bis wo die Kette eingeholt werden muß. Die besser aufwickelbare Kette ist mit einem Schäkel am Draht festgemacht, der oben zur Laufrolle führt. Auf Bild 1 kann man die Kette sehen, während sie auf Bild 2 links gerade nicht mehr mit auf dem Foto ist. Es ist aber im Vergleich mit Foto 1 deutlich erkennbar, daß rechts keine Kette eingeschaltet ist, sondern der Draht von der Laufrolle bis in die Winde geht. Auch auf Bild 3 ist das zu erkennen.

Die Winde (Foto 1) hat eine Sperrklinke, die mit dem links neben der Winde stehenden Hebel ausgerastet wird, wenn die Kette zur Fahrt ans linke Ufer wieder herausgelassen werden soll. In der Winde sitzt eine automatische Bremse, damit die Kette nicht unkontrolliert ausrauscht (Bild 4).
Interessant ist das Foto Nr. 5. Man hat die sehr lange Kette, an der die schwarze Leine zum Festmachen angeschäkelt ist (Bilder 6, 7), auch seitlich befestigt. Ich kann mir keinen richtigen Reim drauf machen und habe leider vergessen, danach zu fragen. Meine Vermutung ist, daß die Fixierung keine Stabilitätsgründe hat, sondern einfach dazu dient, die richtige Lage der langen Kette zu bestimmen, damit sie beim Anlegen in der zum schnellen Festmachen erforderlichen Position liegt.

Die letzten Fotos zeigen die Befestigung des Mastes für das Gierseil. Ganz einfach der Haken und die Spannschraube - die beiden Gewinde sehen seltsamerweise gleichläufig aus, obwohl sie doch gegenläufig sein müßten? Vermutlich eine optische Täuschung, mir fällt es erst jetzt auf. Technik zum Anfassen jedenfalls und gemütlich ist auch der seitliche Haltedraht des Mastes mitten im Restaurant.

:wink: Gernot